Kristallnacht vor 60 Jahren: Eine Lehre fürs Leben

Shiurim und Geschichten

Kristallnacht vor 60 Jahren: Eine Lehre fürs Leben

Von: Robert B. Goldmann, Publizist in New York
In: FAZ am 9. November 1998
Zielgruppen
12-14 Jahre
über 15 Jahren

Der SS-Mann in seiner schwarzen Uniform und ein Schupo kamen früh am Morgen, nach einer Nacht, in der der Himmel rot und gelb war, eingefärbt von den Flammen, die Frankfurts Synagogen verzehrt hatten. Sie kamen, um meinen Vater abzuholen an jenem Morgen vor sechzig Jahren. Meine Mutter schien ihre lebenslange Angst und Vorsicht vergessen zu haben. Verzweifelt schrie sie die beiden an: „Warum nehmt ihr nicht auch ihn mit?“ und deutete auf mich. „Ihr wollt uns ja sowieso alle umbringen!“ – „Nein, nein, Frau Goldmann“, sagte der Polizist in beruhigendem Ton, „der ist ja noch nicht achtzehn, er kann daheim bleiben.“ Vater ging mit ihnen, nachdem er Mutter empfohlen hatte, mich wegen einer Erkältung, die ich nicht hatte, ins Bett zu stecken. „Ja, der Doktor hat recht, der soll im Bett bleiben, damit er sich erholen kann“, sagte der Polizist, während der SS-Mann schwieg. Was ging da vor?

 

Wir hatten keine Zeit lange darüber nachzudenken, weil eine Horde von zwanzig Wilden hineinstürmte und binnen Minuten alle Möbel und die medizinischen Apparate umwarf. Der Boden der Wohnung war mit Glas- und Porzellansplittern übersät – Kristallnacht. In Wirklichkeit war es Kristalltag, der Tag der auf die Nacht der Brände folgte. Mutter, Großvater und ich waren in der Küche eingesperrt. Nachdem die Wohnung zerstört war, kam der Hordenführer an und schrie: „So, jetzt könne Se rauskomme, mer sin fertig.“

 

Kurz darauf kam der Polizist zurück, der meinen Vater abgeholt hatte. Er konnte hereinkommen ohne zu klingeln, denn die Eingangstür war zerschmettert. Er stellte sich als „Roeth“ vor, hatte Vater zum Polizeirevier gebracht und eine Nachricht für meine Mutter: Sie solle ihm das Postscheckbuch mitgeben, denn sie habe keine Unterschriftsbefugnis und werde Geld brauchen. Roeth würde das Scheckbuch dem Vater bringen, damit der unterschreiben könne, und es dann meiner Mutter zurückbringen.

 

„Erwarten Sie, dass ich Ihnen das glaube?“ schrie meine Mutter ihn an. „Jetzt wollt ihr auch unser Geld!“ – „Nein, nein, Frau Doktor“, sagte Roeth wieder in seinem beruhigendem Ton, „glauben Sie mir: Ihr Mann hat mich tatsächlich darum gebeten.“ Mutter holte das Scheckbuch, warf es Roeth hin, und der ging. Innerhalb einer Stunde kam er mit den unterschriebenen Schecks zurück und bat meine Mutter um einige belegte Brötchen, warme Unterwäsche und Strümpfe. Roeth schien nun zu wissen, dass die Juden in ein Konzentrationslager verschleppt würden – es war Buchenwald. Meine Mutter entschuldigte sich dafür, dass sie ihn vorher angeschrien hatte. „Ich verstehe, Frau Doktor“, sagte Roeth.

 

Vater kam nach vier Wochen zurück, abgemagert, den Kopf geschoren, mit Schlagwunden, aber sonst körperlich und seelisch in guter Verfassung. Er hatte im Ersten Weltkrieg vier Jahre an der Front gedient und war in jeder Beziehung stark. Wir nutzten die Hilfe von Verwandten in Amerika, um Mitte 1939 über England in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Der Terror der Kristallnacht hatte bei uns seinen Zweck – die Juden zu vertreiben – erfüllt. Großvater blieb in Frankfurt, er kam erst im April 1941 nach Amerika, kurz vor Torschluß, auf unser Drängen, über das besetzte Frankreich, über Spanien und Portugal. Was dann in Deutschland und im Rest Europas folgte, wurde später Holocaust genannt; davon kamen weder Männer noch Frauen noch Kinder zurück.

 

Aber es gab auch einen Roeth, der sich geweigert hatte, der Hasspropaganda zu folgen. In Reinheim, wo wir wohnten, bevor wir nach Frankfurt umzogen, gab es Lisbeth, die Hausgehilfin meiner Mutter. Die Nazis, die meinen Vater beschimpften und belästigten, schrien sie an: „Geht heim, ihr schlecht Kerle, und lasst mer de Doktor in Ruh!“ Roeth und Lisbeth riskierten viel, aber sie sahen es nicht als Risiko an. Sie handelten aus tief verwurzeltem Anstand. Nach dem Ende des Krieges, als meine Mutter sich erkenntlich zeigte, waren sie erstaunt. Sie fanden, sie hätten sich gar nicht verdient gemacht, als die Care-Pakete ankamen. Der Polizist Heinrich Roeth hatte sich vom Terror der Zeit nicht mitreißen lassen. Er widersetzte sich auf ruhige, fast wortlose Art und half Juden an dem Tag, an dem er sie bedrängen sollte. Erinnerung verlangt Gerechtigkeit: weder die Täter zu vergessen noch diejenigen, die sich widersetzten.

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