„Genau das Gegenteil“ - eine wahre Geschichte zu Jom Kippur

Shiurim und Geschichten

„Genau das Gegenteil“ - eine wahre Geschichte zu Jom Kippur

Erzählt von Rabbiner Israel Gelles
Zielgruppen
12-14 Jahre
über 15 Jahren

Dies ist eine wahre Geschichte, die folgendermaßen begann: 

 

Bei einem meiner Flüge, zog ein Mann, der neben mir saß, seine Aufmerksamkeit auf sich. Er aß eine unkoschere Frikadelle und auf der Verpackung der Mahlzeit stand sein Name: „Weinstein“. Sein Name wies darauf hin, dass er jüdisch war, und ich wandte mich an ihn: „Darf ich Sie etwas fragen?“ „Ja, natürlich“, antwortete er. Ich lehnte mich zurück und wartete, bis er aufgegessen hatte. „Ich möchte nicht unhöflich sein oder unverschämt, aber wussten Sie, dass Sie auf diesem Flug auch eine koschere Mahlzeit bestellen können? 

 

Er starrte mich an und sagte: „Ich esse nicht koscher.“ „Was meinen Sie damit? Dass Sie nur zu Hause auf die Kaschrut achten und draußen unkoscher esssen, oder hat die Kaschrut keine Bedeutung für sie?“ „Nicht koscher zu essen, ist meine freie Entscheidung. Ich habe mich dafür entschieden, weil G’tt befohlen hat, koscher zu essen, und ich mache exakt das Gegenteil.“ 

 

„Aber warum?“, fragte ich und war bestürzt über den Hass in seiner Stimme. Noch mehr war ich schockiert, sobald ich die Nummer auf seinem Arm sah, als er seinen Ärmel hochkrempelte. „Möchten Sie es wirklich wissen?“ fragte er mich und es schien, als hätten diese Gedanken lange in seinem Hirn geschmort, und er über die Gelegenheit froh war, sie endlich loszuwerden. 

 

Ich nickte ihm zu und er sprach weiter: „Ich habe im Lager durchgehalten, bis ich eines Tages nicht mehr konnte. Das Letzte, woran ich zerbrach, war mein kleiner Junge, Katriel Menachem. Meine Frau und unsere anderen Kinder waren schon von uns gegangen. Was mich am Leben hielt, war mein Wunsch, zu erleben, wie mein Sohn Katriel das Lager verließ. Wir beide würden überleben, da war ich sicher!!

 

Eines Tages mussten alle Gefangenen zum Apell antreten. Vom Hof aus gingen einige geheime Türen ab, hinter denen Massentötungen stattfanden. Da sollten wir hinein. Wir hatten furchtbare Angst. Katriel drückte meine Hand so fest, dass mein Blut darin gefror und wir rannten los – um unsere Leben rannten wir, wie alle anderen auch. In dem Chaos, das dabei ausbrach verlor ich meinen kleinen Jungen. Seitdem habe ich ihn nie mehr wieder gesehen. Nach einiger Zeit erzählten mir Bekannte im Lager, dass sie gesehen hatten, wie einer der Wächter meinen Sohn gepackt und erschossen hatte. 

 

G’tt befiehlt uns, Kinder in die Welt zu setzen. Ich habe es befolgt und er hat sie mir genommen – alle. Seitdem mache ich das Gegenteil, von allem, was G’tt will. Er befiehlt koscher zu essen, ich esse unkoscher. Er gebietet, den Schabbat zu halten, ich fahre mit dem Auto und gehe zur Arbeit. Ich will keine seiner Mitzwot erfüllen. Alles, was er sagt – ich mache genau das Gegenteil.“

 

Ich war dermaßen erschüttert von seinem Bericht, dass ich während des restlichen Flugs kein Wort mehr herausbrachte. In Houston gelandet, ging jeder von uns seines Weges, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich Weinstein jemals wieder sehen würde. Vier Jahre gingen vorbei, als ich beschloss, mit meiner Familie zu den Hohen Feiertagen nach Israel zu fliegen. Wir reisten durch das ganze Land. Als Rosch Haschana näher rückte, begaben wir uns nach Me’a She’arim, dem orthodoxen Stadtviertel in Jeruschalaim, wo wir die Hohen Feiertage verbringen wollten. Am Heiligen Jom Kippur besuchte ich eine der Synagogen und als ich hinausging, um etwas Luft zu schnappen, sah ich etwas Merkwürdiges. Ein alter Mann saß an einer Bushaltestelle und rauchte. Mitten am heiligsten Tag des Jahres vor einer ultraorthodoxen Synagoge in Me’a She’arim. Ich schaute nochmal hin und erkannte den Weinstein aus dem Flugzeug. Da verstand ich, dass der Himmel mir eine zweite Chance gegeben hatte. Es war kein Zufall, dass ich gerade Weinstein am heiligsten Tage des Jahres wiedertraf. Seltsam, wie das Leben Menschen manchmal zusammenführt, und sie sich fragen, warum. Wenn ihre Wege sich dann ein zweites Mal kreuzen, verstehen sie vielleicht den Grund dafür. 

 

Ich ging auf Weinstein zu und gab mich zu erkennen. Er erinnerte sich an mich. „Sie wissen bestimmt, dass heute Jom Kippur ist“, sagte ich. „In der Synagoge fängt gleich „Jiskor“ an - das Gebet zum Gedenken an die Verstorbenen. Kommen Sie mit hinein. Das könnte Ihre einzige Gelegenheit sein, den Namen ihres Sohnes beim Oberen Gericht zu erwähnen. Glauben Sie nicht, dass endlich die Zeit dafür gekommen ist?“ Tränen füllten seine Augen. 

 

Ich nahm seinen Arm und führte ihn in die Synagoge, direkt zum Podium, auf dem der Kantor stand. Ich bat den Kantor, ein besonderes Gebet zum Gedenken an Weinsteins Sohn zu sagen. „Wie heißt der Sohn?“, fragte der Kantor. „Katriel Menachem ben Jecheskel Shraga“, flüsterte Weinstein ihm kaum hörbar ins Ohr. Das Gesicht des Kantors wurde kreidebleich. Schweißtropfen traten auf seine Stirn und seine Augen quollen hervor, als wollten sie ihm aus dem Gesicht springen. Er dreht sich zu uns herum, sagte mit erstickter Stimme „Vater“ und verlor das Bewusstsein.

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