Freundinnen fürs Leben
Mithilfe dieser Geschichte kann ein Bezug zu der Geschichte von Ruth aufgebaut werden und die Teilnehmenden können zu einer Diskussion angeregt werden.
Zu Schawuot lesen wir in der Synagoge das Buch Ruth. Es erzählt die Geschichte der Konvertitin Ruth aus Moaw, die auch in schwierigen Zeiten bei ihrer Schwiegermutter Naomi blieb. Die folgende Geschichte hat sich in Israel zugetragen. Die Namen der Personen wurden geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen.
Jeder neue Lehrer fragte Gila und Moran, ob sie Zwillinge seien. Dann pflegte die ganze Klasse in schallendes Gelächter auszubrechen. Gila und Moran waren eindeutig keine Zwillinge, sie waren nicht einmal miteinander verwandt.
Beide Mädchen waren klein und dünn. Beide hatten große blaue Augen, langes blondes Haar und jede Menge Sommersprossen. Beide waren gut in Mathematik, und beide lachten dasselbe helle Lachen. Da sie immer nebeneinander saßen, wurden sie von den Lehrern andauernd verwechselt.
Ihre Mütter waren seit Kindesbeinen die besten Freundinnen und hatten dieselben Schulen besucht. Ihre Töchter kamen im Abstand von einer Woche auf die Welt. Die beiden Mütter beschlossen, nicht weit von einander zu wohnen, damit auch die Kinder beste Freundinnen werden konnten. Sie führten gemeinsam die Kinderwägen spazieren, schickten ihre Töchter in denselben Kindergarten und später in dieselbe Schule. Manche Leute behaupteten, die Kinder seien einander deswegen so ähnlich, weil sie immer zusammen waren. Andere glaubten, sie seien einfach von Geburt an so. Was immer auch der Grund sein mochte, die beiden Mädchen waren seit zehn Jahren die besten Freundinnen, bis...
Mit den Worten "leicht verletzt" beschrieben die Ärzte Gilas Zustand, als sie im Eiltempo in das Krankenhaus gefahren wurde. Sie hatte während eines Terroranschlages an einer Straßenecke gestanden. Drei Menschen wurden getötet und zwanzig verletzt – darunter Gila.
Gila wurde allen Untersuchungen unterzogen. Außer einigen leichten Verbrennungen wurden keine körperlichen Schäden festgestellt. Aber die Angst in ihren Augen zeigte, dass die Verwundung tief in ihrer Seele saß.
Die Ärzte entschieden, sie über Nacht im Krankenhaus zu behalten. Wenn es zu keinen Komplikationen käme, könne sie am nächsten Morgen entlassen werden. Moran weinte und bettelte so lange, bis ihr die Mutter erlaubte, bei Gila im Krankenhaus zu übernachten. Die Familien saßen die ganze Nacht im Gang, während Moran auf dem Boden neben Gilas Bett schlief.
Als die beiden Mädchen am nächsten Morgen erwachten, sah Moran sofort, dass Gila nicht mehr dasselbe Mädchen war. Ihre Augen standen weit offen vor Angst, und ihr ganzes Gesicht war eine einzige Maske des Schreckens.
In den ersten zwei Wochen wich Moran nicht von Gilas Seite. Sie lehnte es ab, in die Schule zu gehen und behauptete, wenn jemand nicht verstünde, dass sie bei Gila bleiben müsse, sei es sein Problem und nicht ihres.
In der dritten Woche konnte Moran schließlich überzeugt werden, Gila für einige Stunden allein zu lassen und wieder in die Schule zu gehen. Aber gleich nach dem Unterricht eilte sie zu Gila zurück. Zwei Monate später war Gila immer noch im Schockzustand, und Moran war natürlich bei ihr.
"Moran", sagte die Mutter eines Tages. "Ich muss dir nicht sagen, wie hingebungsvoll du dich um Gila kümmerst."
"Ich weiß, Mutter."
"Wir alle hoffen und beten, dass es ihr bald besser geht. Aber ich denke, du solltest mehr Zeit mit anderen Freunden verbringen."
"Nein!", schrie Moran. "Gila braucht mich!"
Morans Mutter legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Tochter. "Ich will damit nicht sagen, du sollst Gila vergessen, Moran. Aber du musst auch Zeit mit anderen Kindern verbringen, die ein normales Leben führen."
"Nein!", wiederholte Moran. "Gila ist daran gewöhnt, dass ich bei ihr bin. Wenn ich sie verlassen, wird es für sie noch schwieriger sein, sich zu erholen."
"Moran", sagte die Mutter mit sanfter Stimme. "Du musst auch ein bisschen an dich selbst denken. Gila bekommt Hilfe, aber du, als ihre Freundin, durchlebst denselben Alptraum, und niemand hilft dir."
"Ich kann es nicht glauben, dass du so über meine beste Freundin redest", schluchzte Moran. "Ich will nicht mehr darüber sprechen!"
"Ich sage das nur zu deinem Besten", versuchte die Mutter zu trösten. "Ich liebe Gila und ihre Mutter, aber mehr als alles andere auf der Welt liebe ich dich."
Hat Morans Mutter Recht, dass sie versucht ihre Tochter von der leidenden Freundin ein wenig fernzuhalten? Soll Moran darauf bestehen, immer bei Gila zu sein? Wo verläuft die Grenze zwischen Hingabe und sinnloser Aufopferung?