Die Thora ist die beste Ware
Ein ohrenbetäubender Lärm war zu hören. Donner rollten, Blitze zuckten und Felsen wurden geschleudert.
Der Berg erbebte und eine Rauchsäule stieg auf... . Es war, als ob meine Seele aus meinem Körper flieht, dieser Augenblick ist mein letzter... und dann vernahm ich den Ton eines Schofars, der immer lauter und stärker wurde. Blass und aufgeregt stand ich an meinem Platz, gemeinsam mit Tausenden Männern, Frauen, Alten und Jungen, Kindern, Säuglingen, zitternd vor Angst und Schrecken.
Und plötzlich... eine Stille breitete sich aus, eine Stille, wie von einer anderen Welt... Um den Berg herum flogen Buchstaben, und die Worte „Du sollst nicht morden! Du sollst nicht stehlen! Ehre deinen Vater und deine Mutter!“ prägten sich in meinem Herzen ein.
Träume oder wache ich? Wo bin ich? Diese Fragen stellte sich Onkelos, der sich seine Augen immer wieder rieb. Schließlich machte er die Augen auf und blickte sich um ...
Er lag in einem prächtigen Bett, in dem er in der Nacht zuvor eingeschlafen war. Die Wände des Zimmers waren mit herrlichen Wandmalereien geschmückt. Da ging die Tür auf. Eine Dienerin trat ein und brachte einen Krug Wasser. Von draußen hörte man lateinische Wortfetzen.
Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Ich bin ja in Rom, im kaiserlichen Palast.“ Der Palast gehörte seinem Onkel, dem verehrten Kaiser Hadrian. Er erinnerte sich, dass er in der Nacht zu Besuch gekommen war und seinen Onkel gebeten hatte, bei ihm übernachten zu dürfen.
Onkelos wusch sein Gesicht und trat in den Garten hinaus. Die Vögel sangen. Er ging in dem wunderschönen Garten umher, setzte sich auf eine Bank und dachte über diesen aufwühlenden Traum nach.
Plötzlich erinnerte er sich, wie er während seines letzten Aufenthaltes in Jeruschalaim einen jüdischen Weisen getroffen hatte, der ihm von der Offenbarung am Har Sinai und der Gabe der Thora an das jüdische Volk erzählt hatte. Seit damals war er unruhig gewesen. Vor einiger Zeit schon hatte er begonnen, sich für das Judentum, seine Gesetze und seine Bräuche zu interessieren. Jeden Tag, wenn er zwischen den Blumen und in der Sonne spazieren ging, fragte er sich: Wer hat diese schöne Welt erschaffen, die schon seit Tausenden von Jahren existiert, ohne zu ermüden? Eines Tages kam er zu der Überzeugung, dass es einen Schöpfer und Lenker der Welt geben musste.
Onkelos stand auf. Er hatte beschlossen, nach Jeruschalaim zurückzukehren und seine Thorastudien fortzusetzen. Er betrat den Palast, um sich von seinem Onkel zu verabschieden. Als Hadrian von Onkelos´ Entscheidung hörte, kochte er vor Wut: „Was bedeutet dieses kleine, jämmerliche und verachtete Volk der Juden für dich, einen römischen Aristokraten? Wir sind Römer! Die Herren der Welt! Von uns hängt alles ab. Du bist weise und verständig. Ich gebe dir ein wichtiges Amt im Palast. Laß die Juden und ihre Thora. Vergiss nicht! Es wird ein bitteres und schlechtes Ende mit dir nehmen, wenn du dich an dieses Volk hängst."
„Ich habe beschlossen, meinen Weg zu gehen“, antwortete Onkelos ruhig. „Eine Frage aber habe ich an dich. Mein Wunsch ist es, Kaufmann zu sein. Sage mir, welche Ware ich kaufen soll, um damit Gewinn zu machen?“
„Ich rate dir, besonders billige Ware zu kaufen, deren Preis und Wert niemand erkennt und für die sich niemand interessiert. Dann erkläre den Menschen den wirklichen Wert dieser Ware, und du wirst einen hübschen Gewinn machen.“
Onkelos dankte seinem Onkel und machte sich auf den Weg. In Jeruschalaim lernte er Thora. Schließlich beschloss er, zum Judentum überzutreten. Mit der Zeit wurde er ein großer Thoragelehrter. Als er hörte, dass viele Juden durch ihr Leben in der babylonischen Diaspora die hebräische Sprache vergessen hatten und nicht Thora lernen konnten, übersetzte er für sie die Thora ins Aramäische, ihre Umgangssprache. Diese Übersetzung wird „Targum Onkelos“ genannt und ist in jeder Thora-Ausgabe gedruckt.
Eines Tages erfuhr auch Kaiser Hadrian vom Übertritt seines Neffen. In seinem Zorn schickte er eine Legion Soldaten aus, die Onkelos verhaften und nach Rom bringen sollte. Als sie ankamen, empfing Onkelos sie mit strahlendem Gesicht. Er erzählte ihnen vom jüdischen Glauben und der Thora. Die Soldaten waren von seinen Worten so beeindruckt, dass sie bei ihm blieben und Thora lernten.
Als Hadrian merkte, dass sich die Legion verspätete, schickte er eine zweite aus. Diesmal warnte er sie, nicht mit Onkelos zu sprechen, sondern ihn gleich zu fesseln und nach Rom zu bringen.
„Ich weiß, dass ihr nicht mit mir sprechen dürft“, sagte Onkelos. „Beantwortet bitte meine Frage. Ihr seid Experten für Zeremonien und ihr wisst, dass jeder niedrige Minister vor dem höheren eine Fackel einherträgt, und so weiter bis zum höchsten Minister, der die Fackel vor dem König trägt. Sagt mir nun, vor wem trägt der König die Fackel einher?“
„Der König trägt vor niemandem eine Fackel“, antworteten sie.
Da sagte er zu ihnen: „Der G'tt Israels, unser König, erleuchtete den Weg des jüdischen Volkes, als es aus Ägypten zog, mit einer Feuersäule.“ Als die Soldaten das hörten, wurden auch sie seine Schüler.
Kaiser Hadrian schickte die dritte Legion aus: „Verhaftet Onkelos und bringt ihn sofort zu mir.“
Die Soldaten packten Onkelos und zerrten ihn aus dem Haus. Als Onkelos bei der Türe ankam, küsste er die Mesusa und lachte. „Was küsst du da und warum lachst du?“, fragten die Soldaten.
„Ich lache über die Narren. Ein König aus Fleisch und Blut sitzt in seinem Palast und ist von Wächtern umringt, die ihn vor Gefahren beschützen. Mit dem G’tt Israels, dem König der Welt, ist es anders. Wir sitzen ruhig in unserem Haus und G’tt bewacht uns. Auf der Mesusa stehen Psukim aus der Thora, die uns beschützen.“ Auch diese Abgesandten des Kaisers blieben bei Onkelos und wurden seine Schüler.
Hadrian verstand, dass er Onkelos nicht mit Gewalt überzeugen konnte. Er lud ihn nach Rom ein und versprach, es werde ihm kein Haar gekrümmt werden. Als Onkelos kam, fragte ihn der Kaiser: „Wie kann es sein, dass du, ein Prinz des herrlichen Römischen Reiches, alles verlässt und dich dem kleinsten und armseligsten Volk der Welt anschließt?“
„Ich habe auf deinen guten Rat gehört, mein Kaiser", antwortete Onkelos, „du hast mir geraten, eine billige Ware zu kaufen, deren Preis und Wert niemand erkennt und für die sich niemand interessiert, und das habe ich befolgt. Ich habe ein leidendes, erniedrigtes Volk gefunden und die Thora, die außer dem Volk Israel niemand wollte. Diese Thora fordert uns auf, den Nächsten zu lieben, wie uns selbst und Gutes zu tun. Die Thora verspricht uns, wenn wir ihre Gebote halten, wird G’tt uns beschützen. Unsere Propheten haben uns versprochen, dass das arme jüdische Volk eines Tages ein Volk von Prinzen sein wird. Alle Völker werden G’tt anerkennen und von Jeruschalaim aus wird das Licht über die Welt leuchten.
(Nach: Schmot Rabba 30, Tanchuma Mischpatim, Megilla 3, 77, 17)
Quelle: Mibereshit