Die kleine weiße Kerze
Wisst Ihr, dass es ein Kerzenland gibt? Dort oben wohnen alle Kerzen der Welt, bevor sie zu den Menschen heruntersteigen dürfen, um für irgendeinen Zweck zu brennen.
Einst herrschte große Aufregung im Kerzenland. Alles rannte wild durcheinander, denn die Stunde war gekommen, wo die Engel den Kerzen erlauben, auf die Erde zu steigen. Nicht alle werden ausgewählt sein, und in letzter Minute machten sich alle so schön als möglich, um ja nicht bei der Wahl vergessen zu werden.
Eine unter all den vielen Kerzen – eine kleine, gewöhnliche weiße Kerze – war ganz verwirrt und wusste gar nicht, was da geschieht. Sie schaute immer wieder an sich herunter und fand, dass sie so klein sei im Vergleich mit den großen Kerzen rings um sie. Ihr Kleid war auch nur ganz gewöhnlich weiß und glänzte nicht in so herrlichen Farben und Formen wie das der meisten anderen Kerzen. Und auch ihre Gestalt war sehr schlicht und einfach.
Viele der Kerzen waren überaus herrlich – groß, gerillt, gedreht oder als Früchte und Blumen geformt – wirklich zauberhaft anzusehen. Die kleine Kerze dachte bei sich: Ich werde am besten jemanden fragen, um herauszufinden, wer ich überhaupt bin und zu welcher Familie ich gehöre und was man überhaupt mit mir machen kann. Aber da war ein Tumult – ein Laufen, Reden, Stoßen und Drängen.
„Bist Du von meiner Familie?“ fragte sie schüchtern eine riesengroße weiße Kerze mit einem sehr freundlichen Gesicht. Aber diese schaute aus großer Höhe auf die Kleine herunter und sagte laut und deutlich: „Unmöglich – siehst Du denn nicht, dass Du dafür viel zu klein bist? Unsere Familie war mehr als 250 Jahre lang das ‚Ewige Licht‘ in der alten sephardischen Synagoge. Mach Dich davon, meine Kleine!“ Und so schlich sich die kleine Kerze enttäuscht weiter.
Da sah sie eine Gruppe weißer Kerzen, die immer paarweise zusammen standen, aber auch größer waren als sie. Zu diesen rannte sie nun und fragte sie begierig: „Seid ihr meine Familie?“ Ein paar der Kerzen schauten sie kalt an: „Weißt Du denn wirklich nicht, wer wir sind?“ fragten sie. „N-nein“, stammelte die kleine weiße Kerze, „seht, ich bin gerade geboren worden und meine Eltern vergaßen mich zu benennen und so suche ich nun meine Familie und meine Freunde, ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt machen soll.“ Und sie schluckte tapfer einige Tränen herunter. Die anderen schauten an ihren Dochten herunter. „Wir sind Schabbatkerzen“, sagte endlich eines der Paare, „und wir haben nur Zwillinge in unserer Familie, deshalb kannst Du unmöglich zu uns gehören. Aber vielleicht bist Du mit den Jom-Tow-Kerzen verwandt“, und sie kicherten boshaft. Die kleine weiße Kerze wandte sich von ihnen ab und überhörte das kichernde Flüstern. „Die denkt, sie sei so viel wert wie wir, aber uns darf niemand berühren, wenn wir angezündet sind.“ Und die kleine weiße Kerze wandte sich den nahen Jom-Tow-Kerzen zu, aber die waren so verfeindet mit den Schabbatkerzen, dass sie sofort wieder Streit mit diesen anfingen und alle zusammen die kleine weiße Kerze vergaßen. Ihre Augen voll Tränen, ging die kleine weiße Kerze weg und wäre beinahe über eine wunderschöne, goldgerillte Kerze gefallen. „Kannst Du nicht vorsichtiger sein!“, schalt diese, „Du hast ja fast meine Politur beschädigt.“ „Mach Dich davon“, spöttelte eine verzierte grüne Kerze, „die Engel werden Dich sowieso nicht wählen.“ „Berühr mich nicht“, bat eine leuchtend rote Kerze, „Du wirst meine Krause verderben.“ „Oh, lauf doch weg“, sagte eine rosa Kerze, „wer möchte auch dich auf einer Festtafel, an einer Hochzeit oder an einer Bar-Mitzwa stehen haben wollen.“ Und die schlanken eleganten Kerzen rümpften ihre Nasen.
Die kleine weiße Kerze näherte sich einer Gruppe reizender Kerzen, die wie herrliche Früchte und Blumen geformt waren und bat: „Erzählt mir doch, wo ich meine Freundinnen finden kann und was da überhaupt vor sich geht.“ Und nun fing eine nette rosa Kerze zu erzählen an: „Jedes Jahr kommen die Engel vom Himmel ins Kerzenland und wählen jene Kerzen aus, welche während des Jahres leuchten dürfen und wenn Du nicht gewählt bist“, sagte sie schaudernd, „dann musst Du hier mit all den neuen Kerzen bleiben, und ein langweiliges und verstaubtes Leben führen, und niemand wird Dich je anzünden wollen.“ Und schon stoben wieder alle Kerzen auseinander, um sich ganz schön herzurichten. Aber eine der letzten davonhuschenden Kerzen rief noch: „Du bist eine gewöhnliche kleine Kerze und ich weiß wirklich nicht, für was Dich die Engel brauchen könnten. Vielleicht können Dir aber die Kerzen für die gewöhnlichen Hausfeste helfen.“ Und dann rannte auch sie davon.
Die kleine weiße Kerze fand richtig die winzigen Kerzen für Hausfeste, die wie ein Schwarm von farbigen Vögeln zusammen zwitscherten und sagte zu ihnen: „Seid Ihr von meiner Familie oder aus meiner Bekanntschaft?“ und alle hörten mit dem Schwatzen auf und starten sie an. „Meine Liebe“, sagte endlich eine, „betrachte mal Dich und schau dann uns an! Wir sind Kuchenkerzen, das herzigste Völklein im Kerzenland, in allen Farben des Regenbogens. Wir werden in feinen blumenförmigen Haltern auf wunderbaren Geburtstagskuchen stehen und beim Höhepunkt der Einladung werden wir angezündet und alle werden ihre Augen auf uns richten. Du bist ein großes hässliches Ding ohne Farbe und ohne Gestalt. Du gibst nicht einmal ein richtiges Nachtlicht ab, dafür bist Du nicht groß genug.“ Und damit wusste sogar die kleine Kerze, dass sie beleidigt worden war, denn niemand liebte Nachtlichter. Die waren so fett und hatten keine schöne Form, sie waren dazu noch eingebildet und machten nie Spaß, weil sie so stolz auf ihre Aufgabe als Nachtwächter bei den Kranken waren. „Meine Lieben, seht Ihr denn nicht, die ist doch vom letzten Jahr, wer wird die überhaupt für irgendetwas wollen!“ Und alle rannten davon.
Die kleine weiße Kerze stand in einer Ecke und weinte bitterlich. Gerade in diesem Moment ertönte die große Trompete. Der blaue Himmel färbte sich wunderbar rosa und die himmlischen Engel stiegen unter Glockengeläute zum Volk des Kerzenlandes herunter, das sie mit freudigen Willkommensgrüßen empfing. Bevor die kleine weiße Kerze nur wusste, was geschah, wurde sie emporgehoben und befand sich plötzlich in einer Schachtel mit vielen anderen Kerzen, die genau gleich wie sie geschaffen waren. Sie fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Als sie wieder erwachte und sich umschaute, befand sie sich in einem mehrarmigen Kerzenleuchter, der in einem wunderschönen Zimmer stand, vorne ganz allein. „Wo bin ich?“ murmelte sie zu sich selbst. „Du stehst in einer Menorah“, sagte der Leuchter, „und Du und Deine Freunde – ihr seid Chanukkakerzen.“ Und die Menorah erzählte ihr die wunderschöne Chanukkageschichte, wie die tapferen Makkabäer gegen die Griechen gekämpft hatten, welche die Israeliten zwingen wollten, ihre Götter zu verehren und wie sich nach dem Sieg über die Griechen, als sie den Tempel reinigten, das einzige Ölkrüglein fanden, das nur Öl für einen einzigen Tag enthielt, das aber durch ein Wunder acht volle Tage die Flamme speiste. All dies war ein Wunder des Glaubens im Gegensatz zum Götzendienst und der Barbarei des anderen Volkes. Sie erzählten ihr von Mattitjahu, der den Verräter, der sie alle dem Feinde hatte verraten wollen, getötet hatte und von seinen fünf tapferen Söhnen, die unter Judas, dem Makkabäer viele Jahre für die Freiheit des jüdischen Volkes gekämpft hatte. Und sie erzählte ihr auch von der Märtyrerin Hannah und ihren sieben Söhnen, die nicht bereit waren, sich vor den Götzen zu verneigen und sie anzubeten und deshalb alle der Reihe nach getötet wurden. Und plötzlich wusste die kleine weiße Kerze, wer sie war – ein leuchtendes Licht für Chanukka.
Gerade dann kam ein kleiner Junge ins Zimmer und betrachtet die hübschen Kerzen in der wunderbaren Menorah und sprach mit ihnen:
Frage des kleinen Knaben:
Ihr lieben Kerzen – Ihr Kerzen Licht
Mit Euch die Helle ins Zimmer bricht
Von Eurem Geheimnis erzählt mir jetzt
Und welchen Platz ihr in der Geschichte besetzt
Und die kleinen weißen Kerzen antworteten:
Wir erzählen von Kindern aus vergangenen Zeiten
Viel schwere Stunden sie ihrer Mutter bereiten
Die hat ihnen verboten sich zu verneigen
Um den Göttern der Griechen Verehrung zu zeigen
Hannah hatte der Söhne sieben
Betrauern muss sie nun all die Lieben
So lange aber Israels Kinder leben
Werden sie den tapferen Toten ihr Gedenken geben.
Die Kerzen hörten auf zu sprechen. Die Türe öffnete sich und herein strömte eine Flut von Glückseligkeit – freudig erregte Kinder mit ihrem Rabbi. Die Tische waren beladen mit Kuchen und anderen feinen Sachen. „Halt“, sagte der Rabbi, „Ihr könnt essen, wenn Ihr die Kerzen entzündet habt“, und er hob die kleine weiße Kerze in die Höhe und um ihren Kopf erblühte eine leuchtende, glühende Krone. „Dies ist der Schammes!“ sagte er, „von diesem aus werden alle anderen entzündet!“ Und indem er den Segenspruch zum Entzünden Chanukkalichter sprach, zündete er alle anderen an. Und dann ertönte das Maoz Zur: „Oh meine Stärke, Fels der Errettung, Dir geben wir alle Ehre.“
Die kleinen Kerzen waren nun alle entzündet. Der Rabbi stellte die kleine weiße Kerze zurück in die Menorah. Sie schaute ringsumher und sah die glücklichen Gesichter der Kinder, welche die alte Hymne sangen. Sie hörte die lauten Stimmen, die den Allmächtigen priesen für seine Wohltaten und seine Wunder. Sie sah die Tische beladen mit Süßigkeiten. Sie sah ihre lang gesuchten Geschwister – alle strahlend gekrönt mit leuchtenden Flammen und sie sah sich selbst zuvorderst. Sie, die alle anderen mit Licht gespeist hatte. Und sie schmolz hinweg vor lauter Glückseligkeit.